Erfahrung vs. Interpretation

Realität erster Ordnung versus Realität zweiter Ordnung

Realität der ersten Ordnung definiere ich (Christopher Hareesh Wallis) als das, was wir erleben bevor wir dazu einen Gedanken gefasst oder es interpretiert haben. Unsere Interpretationen sind Realität zweiter Ordnung. Interpretationen, Geschichten, Erzählungen oder mentale Denkrahmen sind gewissermaßen Mittel anhand derer wir unser Erlebtes uns selbst und anderen gegenüber darlegen. Alles was wir in Worte fassen können ist automatisch eine Realität zweiter Ordnung. Es ist eine Darstellung unserer Erfahrung.

Realität der ersten Ordnung ist das was ist (Präsentation), die Realität der zweiten Ordnung ist unsere Darstellung dessen was ist (Re-Präsentation). Wenn wir es ein wenig genauer strukturieren wollen, so tritt die erstrangige Realität in Form von Gefühlen, Bedürfnissen und Werten auf (im Sinne von menschlichen Erfahrungen). ‚Wert’ ist hier nicht gleichzusetzen mit ‚Glauben/Überzeugungen/Ansichten’, letztere gehören zur zweiten Ordnung. Mit Wert ist hier eine Art instinktives Spüren gemeint, ein Wissen darüber, was in jedem einzelnen Augenblick für dich von Bedeutung ist.

Einiges davon taucht häufig auf, manches oft und immer wieder, dann formen wir daraus Glaubensvorstellungen, die das wahrgenommene Muster als für uns wichtig einordnen. Ich möchte behaupten dass etwas, das uns ein sehr wichtiges Anliegen ist, Teil unserer Realität erster Ordnung ist.

Du erlebst eine Emotion, diese ist vielleicht mit einem Sehnen oder einem Bedürfnis nach etwas verknüpft; jedes Bedürfnis ist eine Form von Sehnsucht. Also sehnen wir uns nach etwas, oftmals ist das der Wunsch nach Gemeinschaft. Beziehungen sind ein natürlicher Teil menschlicher Verkörperung von Bewusstsein, wir sehnen uns danach – nicht immer, aber immer wenn wir sie nicht erleben. Und so ist die Verbindung mit anderen Menschen etwas das Wert für dich hat, das dir wichtig ist.

So können wir solche Erfahrungen haben: eine Emotion, ein Bedürfnis, Wertvorstellungen, diese können miteinander verknüpft sein. Zusammengenommen können sie Teil der Realität erster Ordnung sein, wir nehmen sie wahr noch bevor wir einen Gedanken dazu formulieren. Du kannst dich nach einer Beziehung sehnen noch bevor du darüber nachgedacht hast. Dieses Gefühl ist nicht Produkt deiner Gedanken. Es mag durch Gedanken verstärkt werden, oder gerechtfertigt, oder interpretiert, oder erklärt; aber es kann da sein bevor du daran denkst.

Es gibt eine ganze Reihe von Emotionen die stattfinden können, bevor du sie benennst. Und es gibt bestimmte Emotionen, die nur aufgrund von bestimmten Gedanken existieren. Ein simples Beispiel dafür wäre Neid oder Eifersucht. Beide sind häufig das Produkt von Gedanken über eine Situation auf eine bestimmte Art und Weise. Es sind ganz sicher diese Art von Emotionen die wegfallen, wenn wir eine radikale Form des Erwachens erleben.

Erwachen ist die Fähigkeit der Unterscheidung

Eine zentrale Eigenschaft dessen was wir Erwachen oder Erleuchtung nennen, ist eben diese Fähigkeit: zwischen der Realität erster und zweiter Ordnung unterscheiden zu können; unsere Fähigkeit, den Unterschied zwischen Erlebten und dessen Interpretation zu erkennen.

Diese Lehre behauptet nicht, dass die zweitrangige Ordnung der Realität ungültig wäre. Deswegen heißt es ja „Realität“, es ist real! Unsere Darstellungen und Interpretationen unserer Erfahrungen sind sehr wohl real in ihrer Funktion als Stellvertreter. Denn sie können niemals die ganze Totalität unserer Erfahrungen erfassen, mit allen Nuancen, ihrer ganzen Komplexität oder Subtilität. Aber nichts desto trotz sind sie völlig real. Es kann recht anspruchsvoll werden, dies näher zu besprechen.

Es gibt LehrerInnen, eine davon ist Byron Katie, die beharrlich daran arbeiten, Menschen darin zu unterstützen, ihre emotionalen Anhaftungen an ihre Interpretationen und Geschichten zu lösen; was ein durchaus geeigneter und wichtiger Teil spiritueller Vorhaben ist. Aber dieser Weg endet in einer spirituellen Sackgasse. Wir lassen hierbei unsere eigenen Interpretationen von Erleben genauso unberücksichtigt wie die der anderen. Das führt häufig dazu, dass wir unsere Interpretationen von Erfahrungen gegenseitig abwerten.

Hingegen erfordert die Fähigkeit der Unterscheidung zwischen Realität erster und zweiter Ordnung – zwischen Erleben und Interpretation – eben nicht, dass wir die Interpretationen anderer entkräften oder ablehnen. Es verlangt von uns, sie als genau das zu betrachten was sie sind. Wenn wir genau hinsehen entdecken wir, dass jede Interpretation nicht nur aus dem Anteil der Erfahrung besteht, die es vorgibt zu deuten, sondern aus viel mehr. Nämlich aus unseren Meinungen, die auf der Gesamtheit unserer Konditionierungen und vergangenen Erfahrungen basieren und davon abhängig sind.

Wenn es also darum geht, irgendeinen Moment unserer Wahrnehmung zu benennen, so ist dies eine Interpretation die nicht nur ein Bild des Augenblicks zeichnet, sondern auch das unserer sozio-kulturellen Konditionierung, unserer psychologischen Konditionierung und unserer Samskaras. Samskaras sind Eindrücke früherer Erfahrungen in uns, die noch „nicht verdaut“, nicht gelöst sind. Unsere Samskaras sowie auch unsere Konditionierungen beeinflussen die Art und Weise, wie wir jeden Moment unserer Erfahrungen deuten. Konditionierungen durch Eltern und Freunde, durch Medien, Film und Fernsehen beeinflussen zu einem gewissen Teil, wie wir gegebene Erfahrungen einordnen.

Gibt es wahre Gedanken?

Was Interpretationen angeht, so sagen einige Lehrer (wieder wie Byron Katie), dass es keine wahren Geschichten gibt, keine wahren Gedanken. Sie gibt hier ein absolutes Statement; ironischerweise ist der Gedanke, dass kein Gedanke wahr ist, ebenso ein Gedanke – und somit ein Widerspruch in sich. Andere Lehrer wie z.B. Adyashanti versuchen diesen Widerspruch aufzulösen indem sie sagen: kein Gedanke ist absolut wahr. Ich erinnere mich an eine Situation als Adyashanti sagte, dass es so etwas wie einen wahren Gedanken nicht gibt, und er hat dies sogleich korrigiert. Ähnlich wie in seinem Buch „Way of Liberation“ sagt er: manche Gedanken sind wahrer als andere, aber kein Gedanke ist absolut wahr. Damit verändert er seine Aussage dahingehend, dass einige Interpretationen unserer Erfahrungen zutreffender sind als andere.

Manche Interpretationen weisen entweder auf eine individuelle Erfahrung hin oder auf eine universelle. Manchmal bezeichnen wir letztere als „spirituell“ – es gibt weder spirituell noch nicht-spirituell. Aber wir nennen solche Einblicke in universelle Erfahrungen spirituell im Gegensatz zu individuellen Erkenntnissen. Wir gehen davon aus, dass Einblicke in unsere individuellen Erfahrungen eine andere Qualität haben, einen anderen Charakter, als Einblicke in universelle Erfahrungen. Das trifft in gewisser Weise auch zu, aber das eine ist nicht mehr wahr als das andere, es ist lediglich universeller.

Unabhängig davon werden einige Gedanken, Geschichten oder Erzählungen so ausgeführt, dass sie möglichst effektiv Menschen dahingehend unterstützen, dass sie Verbindung mit ihren Erfahrungen aufnehmen können, unabhängig davon ob diese individuell oder universell sind. So würden wir sagen, dass diese Gedanken wahrer sind in dem Sinne, dass sie effektiver sind. Wahrheit bedeutet hier demnach effektiver darin zu sein anderen zu helfen Verständnis, Sympathie und  Einfühlungsvermögen für die eigene Wahrnehmung zu erfahren und mit ihr im Einklang zu sein.

Wenn nun jemand versucht ein ganzes Erfahrungsspektrum darzustellen, z.B. wenn wir eine Bewertung einer anderen Person vornehmen, eine Einschätzung seiner Themen, seiner Psyche oder was auch immer, dann tun wir selbstverständlich nichts anderes, als Aspekte unserer eigenen Erfahrung in Bezug auf diese Person zu vertreten. In diesem Sinne ist jede Diagnose, die du jemand anderem stellst, indirekt auch über dich.

Es gibt diese alberne Populärkultur-Idee „Was immer du über jemand anderen sagst gilt auch für dich selbst“. Nein, so einfach ist es nicht. Vielmehr gilt, welche Beurteilung oder Diagnose du über jemand anderen fällst, ist (und kann nicht anders sein), basierend auf deiner Erfahrung mit dieser Person. Tatsächlich ist es eine Geschichte über deine Erfahrung mit dieser Person. Und wie jede Geschichte ist auch diese beides, wahr und falsch zugleich, je nachdem wie man sie betrachtet.

Jede Geschichte ist wahr und falsch zugleich

Wenn du so etwas wie eine Analyse über dich selbst oder jemand anderen verfasst, so ist jeder einzelne Satz mit deiner gelebten Erfahrung auf irgendeine Weise verbunden. Jede Geschichte ist ganz unausweichlich eine Verzerrung – und in diesem Sinne falsch. Eine Geschichte, Interpretation oder Erzählung ist unvermeidlich eine Verfälschung in mehrfachem Sinn, zum einen weil sie fragmentiert ist und nur einen Teil erzählt. Du kannst niemals eine vollständige Geschichte erzählen, weil es unmöglich ist jede einzelne Nuance der Erfahrung zu berücksichtigen. Deine Geschichte wird immer nur ein Fragment sein. Jemand anderes, der dasselbe Ereignis erlebt hat, wird eine andere Geschichte erzählen weil er/sie sich auf ein anderes Detail fokussiert. In diesem Sinne ist jede Geschichte verfälscht.

Zum anderen entsteht eine Verzerrung durch den ‚Dreh’, die Richtung, die unsere Gedanken in Bezug auf jedes einzelne Ereignis, auf eine Reihe von Ereignissen oder auf die Dynamik zwischen Menschen nehmen. Dieser Dreh wird durch unsere Samskaras, die Gesamtheit unserer vergangenen Erfahrungen, in Gang gesetzt ebenso wie durch unsere Konditionierungen. Jede Geschichte oder Interpretation ist auf diese beiden Arten verzerrt: weil sie unvollständig ist und weil sie verdreht ist. Wir können nicht anders, wir müssen ‚ver’-drehen. Wenn wir Geschichten erzählen sind wir alle „Spin Doctors“, also Tatsachenverdreher. Wir erzählen zwar die Geschichte unserer Erfahrungen, aber unser Verständnis der Erfahrung wird tiefgreifend beeinflusst durch alles das, was wir bis zu diesem Punkt je gedacht, geglaubt oder erlebt haben.

Ich möchte hier herausstellen, dass dies eines der faszinierendsten Dinge über die Natur des Bewusstseins ist, dass wenn es um die Darstellung von Erfahrung geht, jede einzelne Geschichte darüber gleichermaßen wahr und falsch ist. Falsch wie ich bereits erläutert habe, doch ebenso gut ist sie auch wahr. Denn wenn wir uns mit der Entfaltung unserer Geschichte abmühen, so korrespondiert jeder einzelne Satz mit dem, wie wir uns selbst oder andere darstellen wollen, mit einigen Aspekten unserer gelebten Erfahrung. Das gilt auch, wenn es eine verdrehte Darstellung ist und unausweichlich immer sein muss, selbst dann, wenn wir die besten Absichten haben. Da ist ein Wahrheitswert in allem was wir über unsere Erfahrungen sagen, denn jede einzelne Aussage kann mit einem bestimmten Moment unseres Erlebens verbunden sein. Aber sie ist zugleich eine Interpretation und kann somit nichts anderes sein als genau das.

Der Grund warum einige Lehrer behaupten, dass Gedanken/Geschichten nicht wahr sind ist ganz einfach der, sie versuchen zu erklären, dass zweitrangige Realität nicht dasselbe ist wie erstrangige Realität. Daraus entsteht die Lehre „du bist nicht deine Geschichte über dich selbst“. Jede/r in deinem Leben entspricht nicht deiner Geschichte über sie/ihn. Das Leben selbst ist nicht dasselbe wie deine Geschichte über das Leben. Die Welt ist nicht mit deiner Geschichte der Welt gleichzusetzen. Selbst wenn du sehr starke, kraftvolle und gründlich durchdachte Geschichten erzählst, die Person um die es geht ist nicht  deine Geschichte über sie. Das bedeutet nicht dass deine Geschichte wertlos ist oder dass sie nichts mit der Realität zu tun hat. Natürlich hat sie das. Die Lehre hier ist ganz einfach: wenn du die erste und zweite Ordnung der Realität miteinander verwechselst, dann bist du per definitionem schlafend. Also das Gegenteil von wach. Und wir können in einigen Dimensionen unseres Lebens wach sein, während wir in anderen Dimensionen schlafen. In manchen Bereichen unseres Lebens können wir die erste Ordnung der Realität von der zweiten unterscheiden, in anderen Bereichen bringen wir beides durcheinander. Wenn du so handelst als wäre eine Person in deiner Geschichte mit dieser gleichzusetzen – im Sinne von: deine Geschichte sei wahr oder eine wahre Beschreibung – dann verwechselst du die Realitäten erster und zweiter Ordnung. Und doch, wenn wir unsere eigenen Geschichten oder die von anderen unberücksichtigt lassen, so es ist ein spirituelles ‚Ausweichen’ (spiritual bypassing).

Eine Geschichte ist immer eine Interpretation

Jemand mag eine Geschichte über uns erzählen, die uns nicht gefällt und wir sagen: „Ich bin nicht deine Geschichte über mich“ und das ist absolut wahr! Aber es ist ebenso wahr, dass seine Geschichte auf etwas hinweist oder ein Versuch ist, reale Aspekte seiner Erfahrung mit dir aufzuzeigen. Und das sollte nicht zurückgewiesen werden, auch das wäre spirituelles ‚Ausweichen’.

‚Erwacht sein’ beruht zum Teil auf der Fähigkeit, in unserer inneren Wahrheit zu ruhen. Du weißt instinktiv, dass du nicht deine eigene Geschichte bist oder die Geschichte eines anderen über dich. Wenn du das verinnerlicht hast ist es nicht nötig, die Geschichten anderer abzuwerten. Nur wenn du dich erst selbst noch davon überzeugen musst, dass du nicht die Story über dich bist, dann gerätst du in eine Abwehrhaltung und Verleugnung. Wenn du aber weißt, dass du nicht ihre Geschichte bist, kannst du ihrer Geschichte über ihre Erfahrung mit dir zuhören. Ihr Bild von dir mag nicht in dein Selbstbild passen, aber das macht es nicht weniger wahr. Es ist insofern wahr, als es auf Aspekte hinweist, die vielleicht fragmentarisch, ganz sicher verzerrt durch ihre Konditionierung sind; aber dennoch zeigen sie Aspekte ihrer gelebten Erfahrung in ihrer Beziehung zu dir auf.

Ein Problem in unserem aktuellen kulturellen Diskurs ist, mit Verlaub, dass die meisten Menschen nicht wirklich den Unterschied zwischen erster und zweiter Ordnung der Realität verstehen. Die meisten Leute werden das Infragestellen ihrer Geschichte als einen Versuch zur Abwertung ihrer eigenen Erfahrung ansehen. Zum Beispiel erzählt jemand seine Geschichte über irgendein Thema (bsp. gegenwärtiges politisches Szenario) und dann stellst du diese Geschichte in Frage. Gesetzt den Fall, dass derjenige die Beziehung zu seiner erlebten realen Geschichte mit Emotionen aufgeladen hat, so wird er/sie gegenüber dem Umstand, dass du seine/ihre Interpretation infrage stellst, so reagieren, als ob du die Erfahrung selbst anzweifelst. Das geschieht ziemlich oft bei zwischenmenschlichen Angelegenheiten, kann aber überall dort passieren wo man Interpretationen hinterfragt. Und Interpretationen sind immer fragwürdig. Das bedeutet nicht, dass es dein Job ist, ständig zu hinterfragen. Dies ist nur dann möglich, wenn darüber Konsens besteht. Auch wenn die Frage aus einem allgemeinen Interesse entspringt, der Wissbegierde, was hinter den Dingen steht. Nochmal, das Einverständnis für diese Art von Konversation ist unabdingbar. Wenn dein Liebster/deine Liebste dir seine/ihre Geschichte erzählt und du zweifelst diese ohne sein/ihre Einwilligung an, wird das schiefgehen, auch wenn die Frage an sich berechtigt sein mag.

Gaslighting

Wir haben heutzutage ein Problem, einen relativ neuen Diskurs: „Gaslighting“*. Wenn jemand die Interpretation einer Erfahrung auf eine solche Weise infrage stellt, dass der andere der eigenen Erfahrung nicht mehr traut, so nennt man das Gaslighting. In seiner schlimmsten Form bedeutet es, die Saat des Zweifels im anderen zu sähen und zu implizieren, der andere sei verrückt. Es ist wichtig, wach und aufmerksam zu sein, für die Winkelzüge mit denen wir unsere Beziehungen selbst untergraben.

Allerdings gibt es einen wichtigen Unterschied zwischen dem Infragestellen jemandes Interpretation der Erfahrung aus Neugier und Sorge im Gegensatz zu einem Hinterfragen der Interpretation als manipulativer Versuch systematisch das Vertrauen der Person in die eigenen Überlegungen oder Gedankenprozesse. Gaslighting ist ein manipulativer Akt. Es geht darum, die eigene Position auf Kosten des anderen zu verstärken, um irgendein gewünschtes Resultat zu erzielen. Oft wird Gaslighting in Beziehungen im Ringen um Macht eingesetzt.

Das ist hier eine sehr feine Grenze die leicht verschwimmt. Als Gaslighting wird manchmal sogar  das Hinterfragen von Interpretationen bezeichnet, auch wenn es sich lediglich um eine Frage handelt. Wir alle sollten sehr umsichtig sein, damit wir nicht unwissentlich diesen Machtanspruch in unserer Beziehung aufstellen. Wir können nachfragen ohne zu manipulieren oder unsere eigene Deutung oder unsere Erfahrung ins Zentrum zu stellen und ohne dies auf Kosten des anderen zu tun. Das erfordert von uns bei diesen schwierigen und subtilen Dingen genau darauf hinzusehen, wo wir gerade stehen. Und manchmal wissen wir das gar nicht. So können wir uns fragen: agiere ich aus einem ehrlichen Wunsch nach Wahrheit, Sorge um mich selbst und die andere Person? Aus Interesse nachzusehen was passiert wenn wie tiefer graben, tief unter die Interpretationen gelebter Erfahrung der erstrangigen Realität die geschieht, bevor wir sie in Gedanken fassen? Was ist lebendig in uns?

Vikalpas

Dies steht in direkter Verbindung zur tantrischen Philosophie. Denn wir haben eine zentrale Vorstellung von ‚vikalpas’ (mentale Konstrukte), die unter anderem die Geschichten sind, die wir über unsere Erfahrungen weben. Diese Einladung gilt nicht nur für Tantra, sondern für alle Formen von Yoga: lernen, die erstrangige Realität zu erleben und von der zweitrangigen Realität zu unterscheiden (zwischen dem was sich offenbart und wie wir es darstellen).

Ich stelle die These auf, dass genau dies eine entscheidende und aussagefähige Definition für Erwachen ist: die Fähigkeit zwischen beiden zu unterscheiden. Wenn das für dich möglich ist, nicht aber für deinen Gesprächspartner, dann kann es für den anderen frustrierend sein. Die/der andere nimmt dich als jemand wahr, die/der sich selbst als überlegen positionieren möchte, denn du versuchst über einen Unterschied zu sprechen, der für den anderen keinen Sinn macht. Solltest du in der Praxis über den Unterschied zwischen Realität erster und zweiter Ordnung sprechen, mag das manchen Menschen wie ein heimtückischer Versuch erscheinen sie zu manipulieren.

Dies sind herausfordernde Punkte, die auszuhandeln sind, insbesondere deswegen weil, die erstrangige Realität immer einfach ist, während die zweitrangige Realität immer kompliziert ist. Die exakte Beziehung zwischen unseren mentalen Strukturen der ‚Re-Präsentation’ mit dem, was sie versuchen darzustellen, ist eine der schwierigsten Aufgaben. Sie fordert alles von uns, unsere intellektuellen Möglichkeiten, unsere Intuition sowie unsere Fähigkeit der Selbstreflektion, die oftmals weit weniger ausgeprägt ist als wir glauben. Es ist überraschend, aber der einfache Part besteht darin, den Unterschied zwischen Realität und Interpretation zu erkennen. Der schwere Part besteht darin, die Verbindungen klar zu sehen; die dünnen Fäden, die auf höchst komplexen und nuancierten Wegen die unterschiedlichen Aspekte der Darstellung miteinander und mit dem Erleben selbst verbinden. Aufgrund der immanenten Natur von Sprache gibt es keine perfekte Art der Kommunikation.

Wenn es dir gelingt, zumindest für einen Augenblick der Erkenntnis, den Unterschied zwischen direkter und indirekter Realität erster und zweiter Ordnung wahrzunehmen und wenn du mit jemandem sprichst für den dieser Unterschied kaum mehr als theoretisch ist, wird eine Unterhaltung auf dieser Ebene wenig produktiv sein. Es sei denn, du möchtest dieses Spiel spielen und die Interpretation einer Erfahrung überprüfen. Und nochmal, dies ist keineswegs hinterhältig, denn Interpretationen sind nicht von der Realität entkoppelt, sondern mit dieser auf sehr komplexe Art und Weise verknüpft. Sie sind bloß nicht nur mit der Realität verbunden, die sie vorgeben zu transportieren, sondern auch mit allem anderen was die Person ausmacht, die gerade erzählt.

Es ist wichtig zu erkennen, ob du oder dein Gegenüber diesen Unterschied besser theoretisch erfasst, als real. Denn theoretisch kann jeder vom Bestehen eines Unterschiedes zwischen Erlebten und der Interpretation davon überzeugt werden. Nur weil man dies versteht heißt das noch nicht, dass es verinnerlicht ist. Wir sprechen hier davon, etwas zu begreifen was nicht begreifbar ist – klar diesen nicht begreifbaren Unterschied zwischen Erfahrung und Interpretation zu sehen. Wenn dieses ‚Erwachen’ tatsächlich stattfindet, ist der Einfluss auf dein Leben radikal. Es gestaltet das Erleben der Realität ganz elementar um, auf eine Art und Weise die schwer zu beschreiben ist, aus naheliegenden Gründen. Theoretisches Wissen ist das eine, die Praxis ist etwas anderes. Wenn du dies erfasst hast wirst du eingeführt in diese Welt tiefen erstaunlichen Nicht-Wissens. Was nicht alle deine Interpretationen plötzlich bedeutungslos erscheinen lässt, denn es mag es wert sein herauszufinden, wie sie mit der Realität in Verbindung stehen.

* lt. Wikipedia: Gaslighting ist eine besonders perfide Form der emotionalen Manipulation, da sie häufig von Menschen ausgeübt wird, die uns nahe stehen.

Mit freundlicher Genehmigung übersetzt aus dem Englischen 06.2019 von: Brigitte Heinz, Yogalehrerin YA und Anusara Elements · Lektorat: Eva Ananya.

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